Beispiel Guter Praxis: Das Projekt ALONDRA 4.0 EU
Diversitätssensible und gleichstellungsorientierte Unterstützung für besonders benachteiligte junge Menschen
Das Projekt ALONDRA 4.0 EU aus dem ESF Plus-Programm JUVENTUS des BMAS bietet jungen Menschen, die sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind, die Möglichkeit, neue Perspektiven durch ein betriebliches Praktikum im Ausland zu entwickeln. Es werden strukturelle Benachteiligungen ausgeglichen und es wird konsequent darauf geachtet, gemeinsam mit den Teilnehmenden individuelle Lösungen zu schaffen, um die Teilnahme erfolgreich zu realisieren.
Steckbrief
Institution Q-Prints&Service gGmbH und Projektpartner*innen
Programm JUVENTUS: Mobilität stärken – für ein soziales Europa
Projekt ALONDRA 4.0 EU
Förderperiode 2021 – 2027
Querschnittsthema Gleichstellung der Geschlechter und Antidiskriminierung
Förderschwerpunkt Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung von Armut
Quellen/Dokumente Projektwebsite
Kontakt Astrid Heesch
E-Mail
Um welche Herausforderung geht es?
Die Zielgruppen des Programmes und der Projekte haben geringe Bildungs- und Arbeitsmarktperspektiven und werden (teilweise) durch die Instrumente der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik nicht adäquat erreicht. Hinzu kommen Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, sozialem Status, Behinderungen und Armutsbeschränkungen. Sollen Diskriminierungserfahrungen ausgeglichen werden, ist eine passende Unterstützung im Einzelfall erforderlich.
Was wird gemacht?
Das ESF Plus-Programm JUVENTUS eröffnet jungen Menschen mit sozialen Benachteiligungen von 18 bis 30 Jahren, deren Zugang zu Arbeit oder Ausbildung aus individuellen und/oder strukturellen Gründen besonders erschwert ist, die Möglichkeit, durch ein begleitetes betriebliches Praktikum im EU-Ausland neue soziale und berufliche Erfahrungen zu sammeln und damit neue Perspektiven zu entwickeln. Die Teilnehmenden werden in kleinen Gruppen zunächst in Deutschland auf den Auslandsaufenthalt vorbereitet, dann im Ausland bei Sprachkurs und Praktikum begleitet, und am Ende erfolgt eine Nachbereitungsphase in Deutschland. Jede Phase dauert in der Regel acht Wochen. Alondra 4.0 EU des Trägers Q-Prints&Service aus Pforzheim ist eines der 25 im Programm geförderten Projekte, die alle die Aufgabe haben, die Querschnittsthemen Gleichstellung der Geschlechter, Antidiskriminierung und Ökologische Nachhaltigkeit umzusetzen. Dieses Beispiel zeigt, wie Alondra 4.0 EU die beiden Querschnittsthemen Gleichstellung der Geschlechter und Antidiskriminierung praktisch umsetzt.
In der Vorbereitungsphase werden Fremdsprachen- und andere für den Auslandsaufenthalt notwendige Kenntnisse vermittelt. Die Teilnehmer*innen werden interkulturell geschult, dabei werden eigene Diskriminierungserfahrungen thematisiert, aber auch diskriminierendes Verhalten innerhalb der Gruppe. In der Vorbereitungsphase werden Teilnehmende aber vor allem durch erfahrene Sozialpädagog*innen individuell beraten und gecoacht. Es müssen für viele Situationen und Probleme individuelle Lösungen gemeinsam mit den Teilnehmenden erarbeitet werden, damit ein Auslandsaufenthalt möglich wird. Dabei kann es um die Verantwortung für Pflege- und Erziehungsaufgaben gehen, um einen Mangel an Selbstbewusstsein, um eine Behinderung oder Suchterkrankung. In der Vorbereitung gilt es daher für die sozialpädagogischen Fachkräfte, ein Klima zu schaffen, in dem die jungen Menschen ihre Hürden offen und ohne Bewertung kommunizieren können und sich gleichzeitig auf angebotene und gemeinsame Unterstützungspläne zu einigen.
Bei der Wahl der Praktikumsstellen werden die Teilnehmenden dabei beraten, eine realistische Einschätzung entsprechend ihrer Wünsche, Interessen und Vorerfahrungen zu entwickeln. Dabei unterstützen die Berater*innen die Teilnehmenden, sich nicht von Geschlechterklischees leiten zu lassen, und auch Arbeitsbereiche zu wählen, die nicht mit der häufig noch stereotypen Berufswahl in Deutschland einhergehen.
Mit den transnationalen Partner*innen werden Vereinbarungen getroffen, die eine bestmögliche Unterstützung der Teilnehmenden während des Auslandsaufenthaltes ermöglichen. Dabei wird auch explizit Wert auf die Überwindung von Geschlechterungleichheiten und diskriminierenden Strukturen und Verhalten gelegt. Die Sozialpädagog*innen aus Deutschland begleiten die Gruppen ins Ausland, sind durchgängig Ansprechpersonen für die Teilnehmenden und können bei Problemen intervenieren. Nicht untypisch für die Zielgruppe ist, dass es Probleme mit der Zuverlässigkeit gibt. Dazu gehört auch, dass sie verstehen lernen, welche Konsequenzen ihr Handeln für andere hat, die z.B. mit Arbeitsaufträgen auf sie warten. Außerdem kommt es aufgrund anderer Konfliktlösungsstrategien in den Aufnahmeländern leicht zu Missverständnissen, die zu größeren Komplikationen führen können.
Einmal wöchentlich finden Reflexionsmeetings statt, um gemeinsam mit allen Beteiligten wichtige Anliegen zu besprechen. Themen sind kulturelle Unterschiede und Missverständnisse ebenso wie Gruppenkonflikte. Es werden aber nicht nur die Teilnehmenden in ihrer Kompetenzentwicklung begleitet, auch das Projektpersonal selbst reflektiert regelmäßig sein Interagieren mit den Teilnehmer*innen, um mögliche eigene Stereotype und Zuschreibungen gegenüber den Teilnehmenden wahrzunehmen und ihre Stärken bei der Suche nach Lösungen im Blick zu behalten.
Im Folgenden sind zwei Fallbeispiele aufgeführt, die illustrieren, wie es im Projekt gelungen ist, durch die beschriebene Vorgehensweise strukturell bedingten Ungleichheiten und Benachteiligungen entgegenzuwirken:
Justin (Name geändert) lebt in einer Großfamilie. Er wuchs als 8. Kind in einer Familie mit wenig Geld auf, die schon lange Sozialleistungen bezieht. Die Familie bedeutet ihm viel, aber niemand konnte ihn unterstützen, in der Schule die passende Förderung zu erhalten. So verließ er die Hauptschule mit einem eher schlechten Abschluss. Er schaffte es nicht, aus eigenen Stücken eine Ausbildung aufzunehmen, manchmal half er als ungelernte Kraft bei Bekannten aus. Die Ausgrenzungserfahrung von Justin, verbunden mit seinem sozialen Status, führte dazu, dass ein Ausstieg aus der Armut für ihn schwierig war. Er wurde durch das Jobcenter auf das Projekt ALONDRA 4.0 EU. aufmerksam. Der Einstieg ins Projekt fiel ihm schwer, weil er sich auch eine vorübergehende Trennung von der Familie nicht vorstellen konnte. Im vorbereitenden Einzelcoaching wurde seine berufliche Orientierung ausführlich und mithilfe vieler Methoden erarbeitet. Zwar formulierte er Interesse an Kfz-Mechanik, traute sich aber eine Ausbildung in diesem Bereich nicht zu, weil seine Familie kein Auto besaß und er diesbezüglich keine direkten Vorbilder hatte. Als Ergebnis der Vorbereitung wurde mit ihm ein Praktikum im Kfz-Bereich in Griechenland vereinbart. Dort konnte er mit Unterstützung prüfen, ob ihm diese Arbeit liegt. Er war überwältigt vom positiven Feedback der Mitarbeiter*innen des griechischen Unternehmens. Nicht nur, dass er handwerkliches Geschick an den Tag legte, er war auch freundlich, zuverlässig und pünktlich. Bereits im Ausland konnte mit ihm der Bewerbungsprozess gestartet werden, so dass er nach Rückkehr in Deutschland eine Ausbildung in einem Kfz-Unternehmen aufnehmen konnte.
Sveta (Name geändert) aus Sibirien kam nach Deutschland, um Ingenieurin zu werden. Sie lernte zu Beginn des Studiums einen Mann kennen, mit dem sie ein Kind bekam. In ihrem Umfeld sah sie sich auf ihre Rolle als Mutter verwiesen und brach ihr Studium ab. Sie war unzufrieden mit dieser Situation, aber ihr Partner akzeptierte nicht, dass sie ihr Studium wieder aufnimmt. Unterstützt durch eine Beratungsstelle, die sie wegen der beruflichen Perspektive, aber auch wegen Schwierigkeiten mit dem Partner in Anspruch nahm, kam Sveta zu ALONDRA 4.0 EU. Sie entschied sich, Abstand zwischen sich und den Vater des Kindes zu bringen und sich auf ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten durch ein Praktikum in Spanien zu konzentrieren. Im Projekt angekommen fasste sie schnell Vertrauen, da sie offen reden, eigene Wünsche formulieren und Lösungen entwickeln konnte. Bei der Wahl des Praktikums wurde sie zu ihrer Überraschung von allen Beteiligten bestärkt, sich wieder auf ihr Interesse am Ingenieurwesen zu konzentrieren, und nicht – was ihr als machbarer erschien – eine frauendominierte Tätigkeit aufzunehmen. Im Vorfeld des Praktikums konnte außerdem die Betreuungssituation in einem spanischen Kindergarten geklärt werden, so dass sie die vierjährige Tochter mitnehmen konnte und versorgt wusste. Sveta startete ihr Praktikum in einen spanischen Ingenieurbetrieb, wo sie die einzige Frau im Unternehmen war. Sie konnte dort in ihrem Wunschberuf Erfahrungen sammeln und gewann tiefgehende Einblicke in die Produktion. Die spanischen Kollegen im Betrieb gaben ihr gute Rückmeldungen und der Betrieb zog in Erwägung, auch in Zukunft Frauen einzustellen. Sveta entwickelte das Selbstbewusstsein, diesen Weg auch in Deutschland wieder zu verfolgen. Und sie sah, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in einem stabilen System möglich ist. Zurück in Deutschland gelang es ihr, durch ALONDRA 4.0 EU weiterhin unterstützt, eine Ausbildung bei einem lokalen Werkzeugmacher aufzunehmen. Zudem konnte sie ihre beruflichen Wünsche in ihrer Beziehung zum Kindsvater durchzusetzen.
Warum ist das Gute Praxis?
Das Ziel, mehr Gleichstellung und Chancengerechtigkeit im Projekt zu erreichen, setzt sowohl die Perspektive auf strukturelle Veränderungen als auch ein individuelles und geschlechter-/diversitäts-sensibles Umgehen mit der Zielgruppe voraus. Beides ist im Beispiel von Alondra 4.0 EU gegeben.
Die Zielgruppe des Projektes wird von herkömmlichen Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik häufig nicht erreicht, weil sie entweder die Zugangsvoraussetzungen der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nicht erfüllt oder die Angebote nicht mit der persönlichen Situation der jungen Menschen kompatibel sind. Ansatz von ALONDRA 4.0 EU ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Teilhabe tatsächlich ermöglichen. Dazu tragen die Projektstrukturen und -instrumente in hohem Maße bei.
Wie die Fallbeispiele zeigen, werden die Querschnittsthemen Antidiskriminierung und Gleichstellung der Geschlechter durch die individuelle Arbeit mit den Teilnehmer*innen auf gelungene Weise umgesetzt. Es wird weder mit Zuschreibungen noch mit pauschalen Lösungen gearbeitet, die für alle zu gelten haben. Vielmehr wird versucht, die Rahmenbedingungen für den Auslandsaufenthalt für jede und jeden so zu gestalten, dass sie ihn realisieren können und bestmöglich davon profitieren.
Der Programmansatz unterstützt dies: Im Ausland können sich die Teilnehmenden fernab von der Erfahrung mit gesellschaftlichen Stigmatisierungen und negativ wirkenden Einflüssen auf ihr Selbstverständnis und Selbstbewusstsein ausprobieren. Sie können auch ihre Grenzen erfahren und müssen feststellen, dass sie sich Konflikten nicht einfach entziehen können. Selbst wenn sie dies versuchen, konfrontieren Betrieb, transnationale Partner*innen und sozialpädagogische Begleitung die Teilnehmenden mit ihrem Verhalten und befähigen sie, Lösungen zu suchen.
Was ist für den Transfer zu beachten?
Zwei der beschriebenen Grundsätze der Arbeit von ALONDRA 4.0 EU tragen besonders dazu bei, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, Diskriminierung entgegenzuwirken und zu mehr Chancengerechtigkeit beizutragen. Sie lassen sich auf viele andere Kontexte übertragen. Zum einen geht es darum, Barrieren zu beseitigen, die jungen Menschen im Weg stehen, und ihnen so eine bessere Partizipation – oder hier die Nutzung des Angebotes – ermöglichen. Der zweite Grundsatz ist die Konzentration auf individuelle Bedarfe und Lösungen bei Wertschätzung der Diversität der Teilnehmenden. Um diesen Ansatz gut umsetzen zu können, benötigen die Projektverantwortlichen und Mitarbeiter*innen Kompetenzen, Ungleichheiten und Diversität wahrzunehmen und die Stärken der jungen Menschen in ihrer Vielfalt zu erkennen, um diese gezielt zu fördern.