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Beispiel Guter Praxis: Inklusion und Vielfalt als Priorität in Erasmus+

Im Programm Erasmus+ wird mit Mitteln des ESF Plus und Erasmus+ eine chancengerechte Gestaltung der Stipendienprogramme ermöglicht.

Studierende und Hochschulmitarbeitende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung oder mit Kind/ern, erwerbstätige Studierende sowie solche aus nicht-akademischen Elternhäusern können in Erasmus+ finanziell unterstützt werden, um Hürden einer Auslandsmobilität zu verringern.

Steckbrief

Institution Deutscher Akademischer Austauschdienst, Nationale Agentur für Erasmus+ Hochschulzusammenarbeit

Programm Erasmus+, umgewidmete ESF Plus Mittel und Erasmus+ Mittel 

Förderperiode 2021 – 2027

Querschnittsthema Antidiskriminierung

Quellen/Dokumente Programmwebseite: ESF Plus 2021-2027 - Programm für europäische Lernmobilität und Innovation
Programmwebseite: Soziale Teilhabe – Die Umsetzung im Hochschulbereich

Kontakt Dr. Frauke Stebner, Teamleitung Soziale Teilhabe und Diversität
E-Mail
Elena Sangion, Referentin für inklusive Lernmobilität
E-Mail

Um welche Herausforderung geht es?

Auslandsmobilität ist eine wichtige Zusatzqualifikation für eine spätere Berufsaufnahme und bereichert die individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Das Programm Erasmus+ ermöglicht Studierenden und Mitarbeiter*innen von Hochschulen seit über 35 Jahren Auslandsaufenthalte. Allerdings zeigen Sozialerhebungen des Deutschen Studierendenwerks (DSW), dass Studierende mit bestimmten Voraussetzungen deutlich seltener ins Ausland gehen und dass die Vielfalt der Studierendenschaft bei denen, die Programme zur Auslandsmobilität nutzen, nicht angemessen repräsentiert ist. So zeigte sich z.B., dass zwar knapp die Hälfte der Studierenden aus einem nicht-akademischen Elternhaus kommen, sie im Studium jedoch deutlich weniger mobil sind als Studierende aus akademischen Elternhäusern. Die Gründe dafür sind einerseits ein Mangel an akademischen Vorbildern, Habitus und akademischer Orientierung im familiären Umfeld, was u.a. zu einer geringeren Akzeptanz einer Auslandsmobilität beiträgt. Zugleich jedoch ist die Finanzierung der Auslandsmobilität eine Herausforderung für diese Gruppe.

Eine Untersuchung des Studentenwerks mit dem Schwerpunkt Studierende mit Beeinträchtigungen (DSW 5/2023) zeigt auch für diese Gruppe, dass die Auslandsmobilität je nach Art der Beeinträchtigung geringer ist. Dabei ist für diese Studierenden die finanzielle Belastung häufiger ein wichtiger Grund, der gegen einen Auslandsaufenthalt spricht. Auch Studierende mit Kind/ern gehen seltener als Kinderlose während des Studiums ins Ausland. Geringere Teilnahmequoten und -chancen haben auch erwerbstätige Studierende. Dagegen sind Studierende mit Migrationshintergrund häufiger auslandsmobil als diejenigen ohne Migrationshintergrund (DSW 12/2023). Vor diesem Hintergrund ist für Erasmus+ eine chancengerechte Gestaltung von Stipendienprogrammen von großer Bedeutung.

Der Anforderung einer chancengerechten Gestaltung müssen sich auch viele andere Teilnehmenden-Programme im ESF Plus stellen, sie haben aber noch viel zu selten Instrumente dafür entwickelt. Aufgrund individueller Benachteiligungen lässt sich immer wieder eine Programmteilnahme nur mit zusätzlichen finanziellen Mitteln realisieren. Eine der zentralen Herausforderungen, auf die der hier vorgestellte Ansatz in Erasmus+ reagiert, ist, dass der finanzielle Mehraufwand für benachteiligte Teilnehmende individuell verschieden und vorher unbekannt ist und dass dafür kein Budget vorhanden ist.

Was wird gemacht?

Schon vor der aktuellen Erasmus+ und ESF Plus Förderperiode hat Erasmus auf diese Herausforderungen reagiert. Zum finanziellen Ausgleich von Mehrbelastungen wurden für diejenigen mit geringeren Chancen schon vor 2021 zwei Instrumente zur Ergänzung der Erasmus-Stipendien eingeführt: Zum einen die Möglichkeit für Studierende mit Behinderung und Studierende mit Kindern, einen pauschalen Aufstockungsbetrag zu beantragen, zum anderen die Möglichkeit für Teilnehmende mit Behinderung, Realkosten abzurechnen. In der Nationalen Erasmus+ Inklusionsstrategie wurde für die neue Priorität Inklusion & Vielfalt für die Programmgeneration 2021-2027 ausgegeben, dass „die eigene Ausgangslage zukünftig keinem Auslandsaufenthalt mehr entgegenstehen“ soll.

Mit der aktuellen Erasmus+ Förderperiode stehen dafür durch eine Übertragung von ESF Plus-Mitteln auf Erasmus+ deutlich mehr Mittel zur Verfügung. So werden in den Jahren 2022-2027 aus dem „Programm für europäische Lernmobilität und Innovation“ insgesamt 57 Millionen EUR auf die Förderlinie Mobilität von Einzelpersonen übertragen. Dadurch können nun die Aufstockungsbeträge von weiteren Studierendengruppen mit geringeren Chancen und von insgesamt deutlich mehr Personen genutzt werden. Seit 2022 kann ein Aufstockungsbetrag in Höhe von 250 Euro monatlich von Studierenden mit Kind/ern und Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, erwerbstätigen Studierenden und von Studierenden aus einem nicht-akademischen Elternhaus genutzt werden. Die Förderung dieses Instrumentes durch ESF Plus-Mittel ermöglicht zudem eine verstärkte Realkostenförderung von Studierenden und Hochschulmitarbeitenden mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung und solchen mit Kind/ern über Erasmus+ Mittel.

Auch bei der Administration gab es Veränderungen. Um diesbezüglich Hürden abzubauen, reichen nunmehr für die Aufstockungsbeträge ehrenwörtliche Erklärungen seitens der Studierenden aus, in denen von den Teilnehmenden das Vorliegen der Zugangsvoraussetzungen bestätigt und das Einverständnis erklärt wird, dass die entsendende Hochschule hierüber Nachweise anfordern kann. Für die Realkostenübernahme ist dagegen ein förmlicher Nachweis erforderlich (Schwerbehindertenausweis, Bescheid Landessozialamt, ärztliches Attest, Reiseunterlagen des Kindes). Die Realkostenübernahme - die über Erasmus+ Mittel finanziert wird - erfolgt nach Antragstellung auf Basis tatsächlich angefallener Kosten, die nachgewiesen werden müssen. Es können nicht nur Mehrkosten für den Auslandsaufenthalt beantragt werden, sondern auch für eine vorbereitende Reise. Die Höhe der Zusatzförderung liegt für Teilnehmende mit Behinderung/chronischer Erkrankung i.d.R. bei maximal 15.000 EUR pro Semester. Für Teilnehmende mit Kind/ern sind eine Übernahme der Reiskosten der Kinder und Zuschüsse zu Unterkunfts- und Betreuungskosten möglich.

Voraussetzung der Inanspruchnahme dieser Fördermöglichkeiten ist, dass sie den Zielgruppen bekannt sind und die Zuständigen in den Hochschulen gut informiert sind. Daher sensibilisiert und informiert der DAAD ausführlich auf Webseiten, über Publikationen und Handreichungen und vernetzt die beteiligten Akteure. Auf verschiedenen Veranstaltungen unter Überschriften wie „Mobilität chancengerecht - Begleitung, Information und Vernetzung“ (Juni 2022), „Moving closer to inclusive mobility in higher education„ (November 2023), „Mobilität chancengerecht - gemeinsam Hürden überwinden und Barrieren abbauen“ (März 2024) sowie der Online-Trainingsreihe „Vielfalt im Dialog“ (2024) werden übergreifende und spezifische Fragestellungen vertieft, alle relevanten Akteure informiert und einbezogen und mit ihnen weitere mögliche Wege hin zu inklusiver Lernmobilität – in einem weiten Sinne – gemeinsam eruiert und entwickelt.

Durch die beschriebenen Veränderungen konnten schon 2022 deutlich mehr Studierende von der Förderung profitieren. Von insgesamt über 30.000 mit Erasmus+ geförderten Studierenden waren im Aufruf 2021 über 8 % aus der Gruppe der Studierenden mit geringeren Chancen, 2022 von insgesamt ca. 45.000 geförderten Studierenden schon etwa 39 %. Dabei war die Gruppe der Studierenden aus nicht-akademischen Elternhäusern die größte – 75 % der Anträge entfiel auf die Gruppe – gefolgt von erwerbstätigen Studierenden mit 18 %. Deutlich angestiegen ist auch die Anzahl der Antragstellenden mit einer Behinderung und mit chronischen Erkrankungen, aber ihr Anteil an allen Antragstellenden blieb gering und lag 2022 nur bei etwa 2 % bzw. 4 %. Die geringste Zahl an Anträgen entfiel auf Teilnehmende mit Kind/ern, ihr Anteil lag bei 0,4 %. Im Aufruf 2022 konnte somit durch insgesamt 15 Mio. Euro aus dem ESF Plus etwa 4.000 Studierenden ein Auslandsaufenthalt ermöglicht werden, zusätzliche 12.000 Studierende mit geringeren Chancen wurden aus Erasmus+ Mitteln finanziert (bei den Zahlen zum Aufruf 2022 handelt es sich um vorläufige Daten, da die zweijährigen Projekte des Aufrufes 2022 noch nicht final ausgewertet sind).

Geplant ist, dass bis 2027 mehr als 13.000 Studierende von einer erhöhten Förderung durch ESF Plus-Mittel profitieren können.

Die Zahl und das Fördervolumen der Realkostenanträge ist in den vergangenen Jahren ebenfalls angestiegen: So gingen 2022 insgesamt 20 Anträge ein, 2023 bereits 50 - davon 26 von Menschen mit Beeinträchtigungen (chronische Erkrankung und Behinderung) und 24 von Personen mit Kind/ern.

Für die über Erasmus+ Mittel finanzierte Realkostenförderung für auslandsbedingte Mehrkosten von Teilnehmenden mit geringeren Chancen sind im Folgenden einige Beispiele aus der Praxis aufgeführt:

  • Fahrtkosten: Eine Anreise mit einem Sprinter wird finanziert, da die Mitnahme eines speziellen Fahrrades erforderlich ist (Mietkosten für Fahrzeug, Kilometerpauschale).
  • Unterkunft: Eine Mehrzimmerwohnung wird finanziert, da die Anwesenheit einer Assistenz erforderlich ist; erhöhte Kosten auf Grund erforderlicher Barrierefreiheit einer erforderlichen guten Anbindung und daher zentralen Lage der Wohnung werden übernommen.
  • Assistenz: Die auslandsbedingten Mehrkosten für eine 24h Assistenz und das Mobilitätstraining vor Ort werden finanziert.
  • Didaktisches Material: Ein Screenreader wird finanziert.
  • Sonstiges: Die Mitnahme und Versorgung eines Blindenhundes, die Anfertigung einer rollstuhlfahrergerechten Staffelei vor Ort und die Beauftragung einer Spedition für Transport von medizinischem Material werden übernommen.

Die Kosten werden aus Programmmitteln getragen, sofern sie nicht von Seite Dritter übernommen werden.

Warum ist das Gute Praxis?

Erasmus+ verfolgt den Ansatz, durch bedarfsorientierte Instrumente und flankierende Sensibilisierung, Information und Vernetzung Hürden der Inanspruchnahme für Personen abzubauen, die aufgrund von indirekten und direkten Ausschlüssen vorher nur eingeschränkt das Förderprogramm Erasmus+ genutzt haben. Der Ansatz ist gut, weil auf der Grundlage von Forschungsbefunden Zielgruppen identifiziert wurden, für die solche Ausschlüsse gelten und gezielt Förderinstrumente für diese Gruppen entwickelt wurden. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass mit den Instrumenten nicht nur eine benachteiligte Zielgruppe gefördert wird, sondern verschiedene Gruppen. Das Programm fördert so in einem umfassenden Sinne Inklusion. Dabei ist nicht nur die Konzeption gut, auch die Ergebnisse überzeugen: Die Anteile von benachteiligten Teilnehmenden konnten insgesamt erheblich gesteigert werden.

Auch die Förderinstrumente selbst überzeugen. Die beiden Instrumente zielen auf unterschiedliche Finanzierungsbedarfe. Den meisten Antragstellenden wird ein pauschaler Mehraufwand aufgrund ihrer benachteiligenden Voraussetzungen zugestanden. Antrags- und Abrechnungsmodalitäten sind bewusst einfach gehalten, um Hürden der Inanspruchnahme der Förderung zu verringern. Zugleich gibt es die Möglichkeit, auch eine Förderung für Realkosten bis zu 15.0000 Euro pro Semester zu erhalten; hier sind die Nachweispflichten umfassender. Auch wenn nicht viele Teilnehmende diese Realkostenförderung in Anspruch nehmen, ist doch plausibel, dass gerade bei hohen Kosten eine Programmteilnahme ohne die Förderung gar nicht möglich wäre. Durch die finanzielle Förderung kann auf individuelle Bedarfe reagiert werden. Damit ist hier in dieser Hinsicht der Grundsatz der Antidiskriminierung vorbildlich umgesetzt.

Was ist für den Transfer zu beachten?

Erasmus+ hat Finanzierungsinstrumente entwickelt, die für Programme im ESF+, evtl. auch für den ESF+ insgesamt, Vorbildcharakter haben könnten. Denn sobald es um Mehrkosten für Inklusion geht, wird von Projekt- und Programmseite immer wieder auf fehlende Mittel verwiesen. Dass es möglich ist, dafür Finanzierungsinstrumente zu entwickeln, zeigt das Beispiel von Erasmus+. Zu beachten ist dabei, dass die Inanspruchnahme durch die Zielgruppen kein Selbstläufer ist. Voraussetzung dafür ist eine gründliche Analyse von Hürden und Bedarfen, darauf aufbauend die Entwicklung bedarfsgerechter Instrumente und schließlich eine Einbettung in eine umfassende Informations-, Sensibilisierungs- und Vernetzungsstrategie. Die regelmäßige Auswertung ermöglicht schließlich die Prüfung der Wirksamkeit und die Umsteuerung, falls die Ergebnisse nicht überzeugen.


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