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Menschen mit Behinderung

Eine der zielübergreifenden Voraussetzungen, die die Mitgliedsstaaten erfüllen müssen, um Gelder aus dem ESF Plus und anderen Fonds erhalten zu können, ist die Verpflichtung, während der gesamten Umsetzung des ESF Plus die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) einzuhalten.

Um zu verstehen, was dies für den ESF Plus und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bedeutet, ist es zunächst wichtig, einen Grundsatz der UN-BRK zu verstehen: Manche Menschen haben eine Einschränkung (z.B. eine Querschnittslähmung, eine Sehbehinderung, eine kognitive Einschränkung), die für die Menschen zu einer Beeinträchtigung führt (nicht laufen zu können, nicht sehen zu können, manche Dinge nicht so einfach verstehen zu können). Ob aber eine Behinderung daraus entsteht, entscheidet sich im gesellschaftlichen Umgang mit diesen Einschränkungen. Es sind also nicht die Menschen, die behindert sind, es ist die Gesellschaft, die behindert oder aber Bedingungen schafft, die dafür sorgen, dass trotz der Einschränkungen eine volle Teilhabe möglich wird.

Um einen guten Umgang zu finden und Einschränkungen nicht zu Behinderungen werden zu lassen, braucht es eine gute Analyse zur Situation von Menschen mit Behinderungen, die mögliche Mehrfachdiskriminierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der Herkunft und einer Behinderung in den Blick nimmt und entsprechende Gegenmaßnahmen aufzeigt. Auch muss eine barrierefreie Umsetzung gewährleistet werden und ein Zugang von Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Bildungssystem und zum ersten Arbeitsmarkt unterstützt werden. Es muss geprüft werden, wie beide Bereiche nicht nur physisch zugänglich, sondern auch wirklich für alle Menschen nutzbar sind. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche Veränderungen hin zu einem inklusiven Arbeitsmarkt notwendig wären und welche durch den ESF Plus angestoßen werden könnten.

Im Folgenden wird – im Sinne einer solchen Analyse – kurz die Situation von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt angerissen. Auf die Situation junger Menschen mit Behinderung im Übergang Schule – Beruf wird im Zielgruppentext zu Jugendlichen in ihrer Vielfalt eingegangen.

Die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderung ist um ein Viertel niedriger als bei Menschen ohne Behinderung und liegt bei 53% (BMAS 2021: 215). Bei Frauen mit Behinderung ist die Quote niedriger als bei Männern. Besonders gering ist die Beschäftigungsrate von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund, hier liegt sie bei 45% (ebd.: 229f.). Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, haben deutlich geringere Erwerbsquoten als die Vergleichsgruppe in Privathaushalten. (BMAS 2022: 163).

Mit der niedrigeren Erwerbsquote von Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung geht auch eine bedeutsam höhere Arbeitslosenquote der Personengruppe einher (Agentur für Arbeit 2024: 12f.). Sie liegt bei 11,2% gegenüber einer Arbeitslosenquote insgesamt von 6,5% (BMAS 2021: 216). Arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung sind länger arbeitslos und es fällt ihnen schwerer, eine Anstellung zu finden (ebd.), obwohl der Anteil schwerbehinderter Arbeitsloser mit abgeschlossener Berufsausbildung höher als der Durchschnitt ist (Agentur für Arbeit 2024: 14). Menschen mit Behinderung werden bei der Stellenbesetzung insbesondere aufgrund falscher Vorstellungen über ihre Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit und wegen mangelnder Kenntnisse über die staatlichen Fördermöglichkeiten für Arbeitgeber*innen seltener eingestellt. Insbesondere junge Menschen beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf, Langzeitarbeitslose und Betroffene bestimmter Formen der Behinderung (geistig, psychisch, schwer- oder mehrfachbehindert) erleben Stigmatisierung und Benachteiligung (ADS 2013: 23ff.).

Für Frauen mit Behinderung und Migrationshintergrund bleiben Bildungswege besonders häufig verschlossen. Sie lassen ihre Behinderung seltener amtlich feststellen, sind beruflich geringer qualifiziert, haben eine niedrigere Erwerbstätigkeitsquote und ein erhöhtes Armutsrisiko. Auch bei Geflüchteten mit einer Behinderung sind die Zugangshürden besonders hoch (Denniger/Grüber 2017: 7f.). Das Förderprogramm WIR im ESF Plus fördert eine bessere Teilhabe von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt und legt dabei einen Schwerpunkt auf die Unterstützung von Geflüchteten mit Behinderungen (Beispiel Guter Praxis: WIR).

Menschen mit Behinderung arbeiten in allen Branchen, insbesondere häufig im verarbeitenden Gewerbe, im öffentlichen Dienst, im Handel oder in der Pflege und im Gesundheitssektor (Agentur für Arbeit 2023: 9).

Hinsichtlich der Arbeitszeit sind die Wochenstunden der Menschen mit Behinderung durchschnittlich kürzer. Die geschlechterbezogene Ungleichheit bei der Arbeitszeitverteilung liegt auch bei Menschen mit Behinderung vor (BMAS 2021: 233).

Mit ihren Arbeitsbedingungen scheinen Menschen mit Behinderung unzufriedener zu sein als Menschen ohne Behinderung (ebd.: 237). Nach dem DGB-Index Gute Arbeit werden die Arbeitsintensität, das Einkommen und betriebliche Sozialleistungen negativer bewertet als von Menschen ohne Behinderung. Betroffene äußern auch höhere Stresslagen als Menschen ohne Behinderung, was insbesondere auf Frauen zutrifft. Sie arbeiten bezüglich des Erhalts der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit unter schlechteren Bedingungen als Männer mit Behinderung. Insgesamt arbeiten nur 53% an behindertengerecht ausgestatteten Arbeitsplätzen (BMAS 2021: 237, Aktion Mensch 2021: 9, BMAS 2022: 157, ver.di 2014: 6ff.).

Menschen mit Schwerbehinderung üben überproportional oft Hilfs- oder angelernte Tätigkeiten aus (DGB-Index 2022: 3). Sie finden sich überproportional in niedrigen Einkommensgruppen wieder und verdienen im Schnitt 1,38€ weniger pro Stunde als Menschen ohne Behinderung (BMAS 2021: 216). Frauen mit Schwerbehinderung erzielen das niedrigste Einkommen im Gruppenvergleich (Aktion Mensch 2021: 78). Betroffene verfügen allgemein über ein um 30% geringeres Vermögen und sind einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt (BMAS 2021: 278). Während 76% der Menschen ohne Behinderung den Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit bestreiten, sind es 44% der Menschen mit Behinderungen und 36% mit Behinderung und Migrationshintergrund. Weitere wichtige Einkommensquellen sind Renten (29%). Tendenziell beziehen mehr Frauen Erwerbsminderungsrente und mehr Männer die Altersrente für Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung (ebd.: 216). Arbeitslose Menschen mit Behinderung erhalten zudem häufiger Leistungen aus der Grundsicherung, 2021 waren es 58% (Agentur für Arbeit 2023: 12).

Im Hinblick auf Aufstiegschancen sieht sich ein Fünftel der Menschen mit selbsteingeschätzter Behinderung als deutlich benachteiligt, während nur jeder zehnte ohne Behinderung dies äußert (BMAS 2022: 157). Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Beteiligung an Weiterbildungen zwischen Menschen mit und ohne (Schwer-) Behinderung nur sehr gering unterscheiden (DGB-Index 2022: 2ff.).

Viele Arbeitgeber wissen nicht um die Fördermöglichkeiten bei der Anstellung von Menschen mit Behinderung. Die Ausgaben der Integrationsämter für betriebliches Eingliederungsmanagement sind im Bereich der Schaffung von Arbeitsplätzen und deren behindertengerechter Einrichtung gesunken, hinsichtlich Arbeitsassistenz, Hilfen zur Teilnahme und Erweiterung der beruflichen Kenntnisse gestiegen. Obwohl die Anzahl der Beziehenden von Eingliederungshilfe angestiegen ist, gingen die Ausgaben zurück. Einen hohen Anteil machten Zahlungen für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen aus (BMAS 2021: 263ff.).

Die verschiedenen Benachteiligungen am Arbeitsmarkt, besonders bezüglich des Einkommens, wirken sich auch auf die soziale Teilhabe und Wohnsituation der Menschen mit Behinderung aus. Hinzu kommt, dass nur 2,4% des gesamtdeutschen Wohnungsbestandes alle Merkmale der Barrierefreiheit erfüllen. Damit ist das Recht, den eigenen Aufenthaltsort zu wählen und frei zu entscheiden, wo und mit wem man leben möchte, sehr eingeschränkt (BMAS 2021: 334ff.).

All diese Daten zeigen, dass es viele Ansatzpunkte gibt, um aus der Perspektive der Querschnittsthemen Gleichstellung der Geschlechter und Antidiskriminierung eine inklusivere Gestaltung des Arbeitsmarktes voranzubringen:

Es müssen Barrieren abgebaut werden, um den Zugang zu Arbeit zu verbessern, um die Arbeitsbedingungen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und um Diskriminierung zu überwinden. Hierzu gehört zuallererst, dass sich Unternehmen damit beschäftigen, wie Menschen mit den unterschiedlichen Einschränkungen gut in die Arbeitsabläufe integriert werden können. Wie lässt sich in den Arbeitsabläufen Rücksicht auf die unterschiedlichen Einschränkungen nehmen? Welche das sein können, ist bei der Vielzahl von Einschränkungen jeweils im Einzelfall zu prüfen. Ziel sollte sein, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen normaler Teil des Arbeitslebens wird. Auf dem Weg dorthin sind Inklusionsbetriebe, in denen 30 – 50 % der Beschäftigten schwerbehindert sein müssen, ein wichtiger Beitrag. Sie können aufzeigen, wie die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt im ersten Arbeitsmarkt gut gelingen kann.

Die Frage, wie ein inklusiver Arbeitsmarkt gestaltet werden kann, richtet sich also nicht nur an spezifische ESF Plus-Programme für Menschen mit Behinderungen, sondern sollte in allen Programmen wichtig sein.


Dezember 2024